Im Sommer 2018 trat in Luxemburg erstmals ein Archivgesetz in Kraft, das nach jahrelangen Verhandlungen – leider ohne Beteiligung der Archivnutzer*innen – zustande kam. Es war lange erwartet und definierte für das Großherzogtum (endlich!), wie Quellen aus Ministerien und Verwaltungen archivalisch behandelt werden müssen. Das Gesetz schuf damit den Rahmen für eine notwendige und geregelte Ablieferungs- und Archivierungspolitik sowie den erforderlichen Einsatz von geschultem Personal in staatlichen und kommunalen Verwaltungen. Der Gesetzestext weist große Ähnlichkeiten mit bundesdeutschen und belgischen Bestimmungen zum Archivzugang auf. Die allgemeine Schutzfrist von 50 Jahren ist allerdings deutlich länger als in den meisten Ländern, wohingegen die 75-Jahre-Sperrfrist für Akten mit persönlichen Daten auf dem Papier kürzer ausfällt als bei den Nachbarn. Die Auslegung des Gesetzes durch das Nationalarchiv und die Ministerialverwaltungen war seitdem mehrmals Gegenstand von parlamentarischen Fragen und Presseberichterstattung, die die restriktive Zugangspraxis und lange Bearbeitungszeiten bei Anträgen auf Schutzfristverkürzung monieren.
Den Forscher*innen fielen dabei zwei Dinge auf: zum einen wurde die Entscheidungsfrist für die Anträge auf Schutzfristverkürzungen regelmäßig deutlich überschritten; zum anderen legten die Archivmitarbeiter*innen ihren Entscheidungen, ob ein solcher Antrag vonnöten sei, ein extrem rigides Verständnis von „persönlichen Daten“ zugrunde. Dies verweist auf einige Grundprobleme bei der Konzeption des Gesetzes: die wissenschaftliche Forschung, die ein großes Interesse daran hatte, bei der Archivnutzung Rechtssicherheit zu haben, war zu keinem Zeitpunkt in den Gesetzgebungsprozess eingebunden. Zum anderen problematisierte dieser zu wenig die Tatsache, dass das Nationalarchiv historisch als eine kulturelle und nicht als eine wissenschaftliche Einrichtung betrachtet wurde. Dies war nach unserer Auffassung ein weiterer Grund dafür, dass die Perspektive der Forschung nicht ausreichend mitgedacht wurde.
In der Praxis wird beispielsweise der Zugang zu Dokumenten aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs noch regelmäßig erschwert; an eine zeitgeschichtliche Forschung zum Zeitraum ab den 1960er Jahren auf der Grundlage der im Nationalarchiv aufbewahrten Quellen ist kaum zu denken. Das Nationalarchiv nimmt eine restriktive Haltung gegenüber seinen Nutzer*innen ein: Inventare, wie z.B. vorläufige Abgabelisten, werden nicht vorgelegt, ganze Bestände werden wegen mangelnder Bearbeitung oder Unkenntnis der Zuständigkeiten gesperrt. Den Forscher*innen wird kein Vertrauen entgegengebracht. Es besteht beispielsweise keine Möglichkeit, Dokumente nach Zusicherung von Anonymisierung oder Unterzeichnung einer Verpflichtungserklärung einzusehen.
Die Einsicht (falls gesperrt) bedarf noch immer teilweise der Zustimmung durch die Aktenproduzenten. Mitunter ist aber den Benutzern nicht klar, welche Akten noch dem Produzenten unterliegen oder nicht. In anderen Fällen ist selbst dem Archiv nicht klar, wer die „Zuständigkeit“ und damit das letzte Wort über den Zugang innehat. Solange aber das Archiv nicht die Benutzungshoheit oder die „Archivhoheit“ über seine eigenen Akten hat, kann keine professionelle Benutzung gewährleistet werden.
In Bezug auf die Gemeindearchive gilt das Archivgesetz von 2018 nicht, daher ist dort die Verunsicherung sehr groß und es fehlt das Bewusstsein für eine geordnete Archivierung und Bereitstellung von Unterlagen. Es fehlen beispielsweise Benutzungsordnungen und professionelle Findmittel. Im Falle von Akteneinsichten müssen die Forscher mit der zuständigen Gemeinde eine Art Datenschutzvertrag (Convention de mise á disposition d’archives et collections) schließen, in welches jedes Dokument aufgelistet wird.
Seitdem die Probleme mit dem Gesetz und seiner Anwendung bekannt sind, wurden regelmäßig Lösungsansätze diskutiert, die jedoch bisher nicht umgesetzt wurden. Zum einen wird angeregt, die Entscheidungen zu Schutzfristverkürzungen in die Hände des Nationalarchivs zu legen. Dazu wären, wie in anderen Ländern auch, Abkommen zwischen den Ministerialverwaltungen und dem Archiv nötig. In der Zwischenzeit ist jedoch Bewegung in die Sache gekommen: zumindest auf der politischen Ebene ist das Bewusstsein dafür, dass überhaupt ein Problem besteht, gewachsen. Im Raum steht derzeit eine Evaluierung des Gesetzes, die bisher nicht vorgesehen war – obwohl eine solche Vorgehensweise bei anderen Gesetzen regelmäßig praktiziert wird – und die mündlich signalisierte Bereitschaft der Justizministerin, für die ihr unterstellten Bereiche ein Abkommen mit dem Archiv zu schließen. Vielleicht kann so ein Paradox aufgelöst werden.
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